In früheren Zeiten erzählten die Alten oft von dem Hexenknable und dem Stanzacher Mädchen. Der Vater des letzteren sei Gemeindehirt zu Stanzach gewesen und habe dasselbe einmal des Morgens in aller Frühe hinaus geschickt zum Viehholen. Als aber das Mädchen lange, lange nicht mehr zurückkehrte und auch das Vieh nicht kam, so vermutete man, es möchte ein Unglück geschehen sein, und es gingen Leute hinaus, um die Vermißte zu suchen. Alles Zurufen und Johlen blieb aber unbeantwortet, und nirgends fand sich eine Spur von dem Mädchen.
Da machte sich am zweiten Tage alles, was nur konnte, auf die Beine, und nach allen Richtungen zogen Leute aus.
Endlich vernahm man auf fortgesetztes Zurufen von einer ganz abgelegenen wilden Stelle her aus dichtem Gestrüppe die Stimme der so lange Gesuchten, und als man nun näher hinzukam, rief das Mädchen entgegen, man solle doch keine Mannsleute zu ihr hinlassen, denn sie habe kein Fetzlein Gewand mehr am Leibe. Da traten von den Suchenden die Weiber, die hier zu Lande ungemein breite Schürzen tragen, zu ihr in das Gebüsch und überreichten zur notdürftigen Bekleidung ihr nun solche Schürzen, und dann brachte man sie zu Thale.
Das Mädel erzählte nun, wie es ihr ergangen sei. Sie habe das Vieh, das auf der Weide sehr weit umher zerstreut war, sammeln wollen, und da sei auf einmal ein wunderbares, kleines, schönes Knable gekommen und habe ihr zugelacht, und dann sei es näher herangetreten und habe angefangen zu scherzen und habe sie an den Kleidern gezupft und gezerrt und sei halt überaus lieb und lustig gewesen. Da sei es ihr ganz wunderlich zu Mute geworden, und endlich habe das Knable sie erfaßt und mit ihr sich in die Lüfte erhoben. Es habe nun mit ihr um die Schrofen und Bergspitzen herumgetanzt. Sie seien bis zum Nehren (Neerengrat), zum schwarzen Wald und über allerlei Joche und Schneiden gekommen, und da habe sie an den zackigen Felsen ihr Gewand immer mehr zerrissen. Endlich habe sie nichts mehr von sich gewußt und könne auch nicht sagen, wie sie unter das Gestrüppe gekommen sei, unter dem man sie gefunden habe.
Niemand wußte das merkwürdige Vorkommnis zu erklären; aber man hielt insgemein dafür, daß dies ein Hexenknable oder Bergmännle gewesen sei, und so erzählte man noch lange in Stanzach von diesem wunderlichen Hexenknable.
Reiser, 1895