Auf einer Alpe im Lechthale ging früher jahrelang ein ehemaliger Senn um, der zu Lebzeiten das ihm anvertraute Vieh vernachlässigte und verschuldete, daß öfters solches bei der Weide tot fiel. Wenn man im Herbste mit der Herde abgezogen war, zog der Geist in der Hütte ein und mußte nun eine große Herde hüten und versorgen. Man hörte dann Glocken- und Schellengeläute, im Stalle Lärmen und Poltern, und so wurde der Geist allgemein gefürchtet und die Hütte bis zum Alpzuge im Frühjahr gemieden. Man hieß den Geist den "Wiesenseppl". Damals lebte im Lechthal ein ungemein kuraschiertes Mädle Namens Traudl, die weitaus am besten tanzte im ganzen Thale und daher stets "Prangere" war. Sie that es in allen Dingen den Burschen gleich und wollte es sogar mit dem geistenden Wiesenseppl aufnehmen, den sie nicht fürchtete. Wenn man ihr fünf Gulden gäbe, wolle sie allein in die Hütte, und zum Beweise, daß sie dort gewesen, wolle sie eine "Schuefe", die man beim Abzuge zurückgelassen hatte, mitbringen. Auch ein Feuer wolle sie anbrennen.
Da wetteten einige mit ihr, und die Traudl machte sich daran, die Wette zu gewinnen, und stieg auf die Alpe. Beherzt ging sie hinein in die Hütte, holte die Schuefe hervor und wollte schon ein Feuer anmachen, als der Wiesenseppl unter wildem Lärm und Gejohle kam. Er sah fürchterlich wild aus, blinzelte gar zornig mit seinen großen Augen und schritt auf die Traudl zu. Diese bekam Furcht und Schrecken, und eilig floh sie zur Hütte hinaus, den Berg hinab, bis sie ganz außer Atem zu einem alten grauen Männchen kam, das in den unteren Gelägen noch spät im Herbste die Geißen hütete. Kaum daß sie diesem noch erzählen konnte, was sie gesehen, wurde sie ohnmächtig und starb darauf. Da brachte man sie tot zu Thal, und am nächsten Sonntag, wo wieder Tanzmusik und sie Prangerin gewesen wäre, trug man sie zu Grabe. von diesem Wiesenseppl hat man aber später nichts mehr gehört oder gesehen.
Reiser, 1895