Wenn man das kleine Kapellchen von Kienzen ausnimmt, war die älteste Kirche von Tannheim, das ursprünglich aus zwei Höfen, dem untern und dem obern, entstand, und deren Namen sich noch in der Bezeichnung "Höfen" erhalten hat, die Sankt Leonhardskapelle jenseits der Ach und gegenüber von Kienzen. Sie war auch die erste Pfarrkirche des Ortes, der vordem wie das ganze Thal nach Liebenstein bei Hindelang gehörte. Als das Kirchlein dann zu klein geworden, erbaute man die "Sankt Anna Gruft" und erst viel später die jetzige Pfarrkirche zu Sankt Nikolaus. Da hier zur Pestzeit der Friedhof zu klein geworden, begrub man die von der Seuche zahllos Dahingerafften bei Sankt Leonhard, und da sei es vorgekommen, daß die gegen Lohn fungierenden Totengräber aus Pfronten auch Scheintote begraben haben. Deshalb geistete es früher auch in dem Kirchlein und konnte man allerlei Erscheinungen wahrnehmen. Manche sahen da einen Pudel zur Nachtzeit umgehen; andere bemerkten Lichtlein, die so schnell wie der Blitz hin und herfuhren, und wer in der Nähe nachts vorbeikam, wurde gern irregeführt. Als einmal ein Weib von Fricken auch des Weges kam, erblickte sie auf einmal einen enzlangen Mann mit kurzen Hosen und weißen Strümpfen vor sich, daß sie nicht schnell genug davon springen konnte. Auch ein Finanzer sah einmal diesen Mann ganz deutlich, und es kam sogar vor, daß Leute, die nicht ganz gut gesegnet waren, wenn sie von Tannheim hinunter gingen, von dem riesenhaften Mann erfaßt und über das Wasser hinüber zum Kirchlein getragen wurden. So passierte es einmal einem Einnehmer, der in der Nähe am Weg Notdurft halber etwas verweilte, daß plötzlich der Mann vor ihm stand und ihn erfaßte. Der Einnehmer erschrak fürchterlich und verlor die Besinnung; als er wieder zu sich kam, lag er in der Kapelle unter den Betstühlen.
Es hieß früher immer, in dem Kirchlein sei ein Schatz verborgen, und darum hat man schon öfter gegraben und ihn zu heben gesucht. Die Grabenden wurden aber entweder hinausgeworfen oder es kam ein Pudel oder sonst etwas und vertrieb sie.Reiser, 1895