Ehenbichler Totenbretter (Foto: Ferdinand Fuchs)
Jedes Leben endet mit dem Tod. Er weilt stets mitten unter uns. Diese Tatsache wollen heute zwar viele nicht mehr wahrhaben und versuchen, Gedanken oder Erinnerungen an den Tod aus ihrem Alltag zu verdrängen. Es nützt nichts: der Tod war, ist und bleibt Teil des menschlichen Lebens, wir müssen ihn zur Kenntnis nehmen.
Die religiöse Volkskunde kennt bei allen Völkern eine Vielzahl von Totenbräuchen und -kulten. "Sie erweckten von jeher teils Angst und Ungewißheit vor dem Tod, teils fatalistische Ergebenheit, teils Dämonenfurcht und rückten Fragen nach der Aufgabe und dem Sinn des Lebens oder nach dem jenseitigen Fortleben in den Vordergrund".
Vielfältig und zahlreich waren einstmals auch im Außerfern Kult und Brauchtum rund um den Tod. Die Totenbräuche unterlagen im Lauf der Jahrhunderte immer wieder Wandlungen und Veränderungen, wobei das Christentum eine wesentliche Rolle spielte. Die heutige nüchterne Zeit kennt nur noch wenige der einstigen zahlreichen Bräuche. Der Großteil ist vergessen oder lebt nur noch in der Erinnerung alter Menschen sow der Volkskundler und Chronisten in ihren Aufzeichnungen weiter.
An einen solchen Brauch, der noch um die Jahrhundertwende in Teilen Außerferns bekannt war, will der heimatkundliche Beitrag jetzt im Monat des besonderen Gedenkens an unsere Verstorbenen erinnern und den einen oder anderen Chronisten anregen, sich mit dem Brauchtum in seiner Gemeinde zu befassen. Im jetzigen Fall handelt es sich um die einstigen Toten- oder Leichenbretter.
Außerferner Totenbretter nur spärlich erwähnt
Als vielleicht erster wies der bekannte Sagen- und Brauchtumsforscher Karl Reiser, der in seinen Forschungsarbeiten auch das Außerfern miteinbezog, 1894 in seinem heute noch nicht überholten Werk "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" auf diesen frommen Brauch in Nebenorten um Reutte hin.
Der zu Unrecht vergessene Heimatforscher des Tannheimer Tales, Volksschuldirektor Anton Anranter, schrieb 1926 in den Tiroler Heimatblättern: "In den Nachbarorten von Reutte bestand bis vor kurzem oder besteht heute noch die Sitte, daß man ein Brett, auf dem der Tote gelegen hatte, hernach bemalen und mit dem Namen, dem Geburts- und Sterbedatum versehen ließ und es dann an einen Baum neben der Straße, bei einer Feldkapelle oder neben einem Fußweg in der Nähe des Dorfes anbrachte, damit die des Weges kommenden noch längere Zeit an den Verstorbenen erinnert werden".
Von den Nachbarorten, die Anranter leider nicht mit Namen nennt, ist dem Verfasser nur Ehenbichl bekannt, wo solche Totenbretter zum Brauchtum gehörten. Es ist aber nicht auszuschließen, daß auch in den anderen Orten dieser Brauch gepflegt worden ist.
Als es noch keine Leichenhallen gab
Vor gar nicht allzulanger Zeit wurden im Außerfern die Toten noch in der Wohnung des betreffenden Sterbefalles aufgebahrt, entweder in der Stube oder im Hausgang, im Lechtal vielfach auch im Gaden (Schlafzimmer). Nachbarn verrichteten in den allermeisten Todesfällen die Arbeiten der Aufbahrung, des Grabmachens, der Totenwache, des "Ansagens" - wobei meist eine ältere Frau des Dorfes von Haus zu Haus ging, den Tod des Mitbürgers oder der Mitbürgerin vermeldete (ansagte) und um die Teilnahme an den abendlichen Seelenrosenkränzen und am Begräbnis bat.
Die Aufbahrung erfolge in der Weise, daß man über zwei Holzböcke oder Schrägen Bretter oder ein zwei Läden legte, sie mit Tüchern abdeckte und darauf den Sarg stellte. Im Lechtal wurden die Bretter auch auf die Bettstatt des Verstorbenen gelegt. Nach der Beerdigung war es dann in manchen Orten Sitte, daß man ein Brett oder den Laden, auf dem der Tote gelegen hatte, als sogenanntes Totenbrett verwendete wie zum Beispiel in Ehenbichl.
Die Ehenbichler Totenbretter
Die noch vorhandenen sieben Totenbretter fanden sich noch nach dem zweiten Weltkrieg bis etwa um 1955 an einem Zaun auf der linken Straßenseite des nördlichen Dorfeinganges befestigt. Sie sind zum Teil stark verwittert, und das eine und andere war bereits angefault. Der heimatverbundene Schulleiter Alfred Rief rettete sie vor dem Verheizen oder der sonstigen Vernichtung und fügte sie der Lehrmittelsammlung der örtlichen Volksschule ein.
Die Totenbretter sind in ihrer Ausführung sehr schlicht und schmucklos und waren senkrecht am Zaun festgenagelt. Sie bestehen aus Fichtenholz und weisen folgende Maße auf: Höhe 105 cm, Breite 18 - 21 cm, Stärke 2 cm. Ob die Bretter einstmals in der Höhe abgerundet waren oder spitzig ausliefen, daran erinnert sich niemand mehr genau. Die Totenbretter tragen lediglich den Namen des oder der Verstorbenen, das Sterbejahr, bis auf eines nur als Zehnerzahl, und die Initialen R.I.P. (= Requiescat in pace), entweder in schwarzer Farbe aufgemalt oder eingeschnitzt. Das älteste Leichenbrett stammt aus dem Jahr 1880, das jüngste aus dem Jahr 1923.
Die Inschriften lauten:
(Joh...?) - ana Haselwander - 80 - R.I.P. Peter Ginther - 92 - R.I.P. ..... Ginther - 99 - R.I.P. Josefa Wolf - 02 - R.I.P. Georg + Spilz - 22 - R.I.P. Franz Ginther - 23 - R.I.P.\r\n\r\nWann und wie der Kult der Totenbretter in Ehenbichl entstanden ist, liegt im Verborgenen. Dazu fehlen Aufzeichnungen oder mündliche Überlieferungen. Dieser Brauch läßt aber auch auf ein natürliches Verhältnis der Vorfahren zu ihren Verstorbenen schließen, denn sie setzten ihnen nicht nur auf dem weit entfernten Friedhof in Breitenwang ein Grabkreuz, sondern widmeten ihnen auch in unmittelbarer Nähe ein frommes Erinnerungszeichen.
Auch in Lermoos kannte man Totenbretter
Aus den Aufschreibungen des einstigen Schulleiters Roman Gerber wissen wir, daß der Brauch der Leichenbretter auch in Lermoos gepflegt wurde. Sie wurden dort mit Vorliebe im vermoosten Talbecken über Gräben und kleine Bäche gelegt, über die ein Fußweg führte. Die dazu benützten Bretter waren gehobelte Fichtenläden von 1,5 bis 2 Meter Länge, 30 - 40 cm Breite und 4 cm Dicke. Darauf waren Namen und Sterbejahr sowie die Initialen R.I.P. in lateinischer Druckschrift eingeschnitzt. Diese Bretter wurden von den nächsten Angehörigen angefertigt und gelegt und erfüllten mit der Erinnerung an den Verstorbenen zugleich einen praktischen Zweck, nämlich den eines Steges. Manchmal lagen zwei oder drei solcher Bretter nebeneinander. War die Inschrift abgetreten oder verwittert, so wurden die Bretter entfernt. Dieser schöne Brauch schlief mit der Moosentwässerung allmählich ein (1888/93).
Volksausdrücke von den Totenbrettern
Vom Kult der Totenbretter stammen die heute fast vergessenen Volksausdrücke wie "Auf'n Schrage kumme", Sie liegt "auf'm Bo(u)m" (Baum), Er liegt "auf'm Lade", "Auf's Brett kumme" u.a.m. Sie meinen alle soviel wie "gestorben" oder "sterben" bzw. die Art der Aufbahrung.
Zu den ältesten Bezeichnungen für die Leichenbretter zählt der Ausdruck "Reebrett" oder auch "Rechbrett". Dieser Name führt auf das althochdeutsche Wort "reo" für Leichnam zurück. Das Wort dar als Hinweis für das Vorhandensein dieser Aufbahrungsart bereits in altbajuwarischer Zeit gesehen werden. Im ersten Teil des Nibelungenliedes (= mittelhochdeutsches Epos um 1200) heißt es bei Siegfrieds Tod: "man wuosch im sine wunden/und leit in uf de re...." = man wusch ihm seine Wunden und legte ihn auf den Re, d.h. auf das Leichenbrett.
Gestaltung und Verbreitung der Leichenbretter
Die Form und Gestaltung der Totenbretter war sehr verschieden und reichte vom schlichten Brett bis zum gut gelungenen Werk der Volkskunst. Die Ausschmückung richtete sich nach dem Können und Empfinden des Gestalters und dem Brauch des Ortes. Neben der einfachen Kennzeichnung durch ein oder drei Kreuze, dem Namen des Verstorbenen, des Sterbejahres und den Initialen R.I.P. finden sich seit dem 17. Jahrhundert auf den Leichenbrettern ausführliche Inschriften, Gebete, Gebetsaufforderungen, Segenswünsche und erbauliche Verse.
Die früher weite Verbreitung der Totenbretter reichte von der Schweiz durch Mitteleuropa bis nach Rußland. In Österreich war der Brauch besonders in Tirol, Salzburg und Oberösterreich in Schwung. Eine besondere Pflege und starke Verbreitung fanden die Leichenbretter im östlichen Bayern (Bayerischer Wald) mit Ausläufen auf fränkisches Gebiet und im Böhmerwald.
Literatur und Quellen: Lexikon für Theologie und Kirche, 10. Band, 1965; Reiser Karl, Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus, 1894; Anranter Anton, Totenbretter, Tiroler Heimatblätter, 1926; Beitl Klaus, Volksglaube, 1978; Schulrat Pohler Alois, Reutte, 1982; Bürgermeister Ing. Ginther Helmut, Ehenbichl, 1982.