Ein Gastbeitrag von Christian Rief (Tannheim)
300000 als Soldaten der Deutschen Wehrmacht gefallene Österreicher, 65400 ermordete österreichische Juden, 24300 Opfer von Luftangriffen, eine halbe Million österreichische Kriegsgefangene und 35300 im Kampf gegen den Nationalsozialismus ums Leben gekommene Österreicher waren der bittere Preis, der für den im Jahre 1939 vollzogenen "Anschluss" Österreichs an Hitlerdeutschland bezahlt werden musste. Die durch Krieg und Besatzung entstandenen Schäden beliefen sich auf viele Millionen Euro.
Es war der 27. April 1945, als Vertreter der Österreichischen Volkspartei, der Sozialistischen Partei und der Kommunistischen Partei eine Unabhängigkeitserklärung erließen, in deren erstem Artikel es heißt: "Die demokratische Republik Österreich ist wiederhergestellt und im Geist der Verfassung von 1920 wieder einzurichten. Der im Jahre 1938 dem österreichischen Volk aufgezwungene Anschluss ist null und nichtig."
Zur Zeit der Proklamation dieser Erklärung wurde auf österreichischem Boden noch gekämpft, und gerade das Außerfern erhielt in diesen Tagen schwerste Kriegswunden. Am härtesten betroffen war die Gemeinde Grän.
Tirols am schwersten betroffener Bezirk
Ende April 1945 fluteten die Verbände der 1. und 19. deutschen Armee durch Württemberg und Bayern den Alpen zu. Die deutsche 47. Division (Oberst von Grundherr) hatte sich bis in den Raum Immenstadt-Kempten abgesetzt, ständig bedrängt von den Stoßkeilen der 1. französischen Armee (General Le Lattre de Tassigny) und der 7. amerikanischen Armee (General Patton-Clark) in unserem Gebiet von der amerikanischen 44. Infanteriedivision.
Am Freitag den 27. April waren die Amerikaner bis Nesselwang (im Allgäu) vorgedrungen. Am Samstag den 28. April 9 Uhr zogen sie durch Pfronten. Als weitere Stoßrichtung konnte nur das Gebiet um den Fernpass und Innsbruck gedacht werden.
Die Franzosen waren über Immenstadt bis Wertach-Unterjoch gekommen; ihr eigentliches Ziel war das Oberallgäu.
In anderen Kriegen verschont geblieben
Was aber hat das stille Tannheimer Tal noch ganz am Schluss mit den letzten Aktionen dieses Krieges bekanntgemacht? Dieses Tal, das wie früher abseits von den Heeresstraßen lag, in diesem Krieg von eigentlichen militärischen Handlungen verschont geblieben war und im besten Sinn Zuflucht für die bombenbedrohten Städter sein konnte!
Nesselwang, Füssen, Pfronten und Reutte mögen in früheren Jahrhunderten manche Heereszüge deutscher Kaiser gesehen haben. Auseinandersetzungen zwischen bayerischen und österreichischen Herrschern, Bauernkrieg, Dreißigjähriger Krieg, Franzosenkriege hatten dieses Gebiet betroffen. Aber Tannheim und sein Hochtal waren davon unberührt geblieben. Auch der Einfall der Bayern 1704, die Franzosenkriege und die Freiheitskämpfe Andreas Hofers 1809 hatten das Tannheimer Gebiet nicht in Mitleidenschaft gezogen. 1796 waren Franzosen bis an die Grenze von Unterjoch gekommen. Eine Lechtaler Kompanie wurde an diese gefährdete Stelle verlegt. Ein Feiertag wurde angelobt, falls sich der Feind zurückziehen würde. Zum Dank für die Verschonung feiert das Tannheimer Tal noch heute den 17. September als "Talfest".
Das Jahr 1945 aber, mit der Zerstörung von Grän am 29. April mit der Besetzung des Tannheimer Tales durch Amerikaner, Franzosen und Marokkaner, durch Eroberer anderer Kontinente, anderer Farbe, Sprache und Rasse, wird unvergesslich in der Geschichte des Tales uns seiner Bewohner bleiben. Weltkrieg in letzter Stunde, zum ersten Mal und in solch ungewöhnlicher Art in diesem Tal der Stille!
Die Vorgänge in Grän
Am 17. April 1945 kam aus der Richtung Oberjoch eine Kompanie deutscher Nachrichtentruppen nach Grän und bezog Quartier. Die Technische Nothilfe und der Arbeitsdienst trafen Vorbereitungen zur Verteidigung, sie schanzten im Engetal und zerstörten Wege. Am 2. April gegen Abend kam noch eine Artillerieeinheit mit kleinen Geschützen und bauten Stellungen am Haldensee-Moos, Höhe und Wäldle-Brücke aus.
Am 29. April in der Frühe begann der Kampf im Engetal. Als die deutsche Artillerie in Tätigkeit trat, beschossen die Amerikaner von der Straße Pfronten-Vils aus über den
Aggenstein herüber Grän mit Brandgranaten; in kurzer Zeit war die ganze Umgebung von Grän mit Granatsplittern übersät. Die deutschen Soldaten zogen sich gegen das Engetal zurück und sprengten noch die Gaichtpassprücke. Die Amerikaner drangen um 2 Uhr nachmittags in Grän ein, besetzten die Ortschaft und zogen am 30. April weiter gegen das Lechtal. Ihre Panzer mussten, weil die Gaichtpassbrücke gesprengt war, den Weg über Pfronten-Reutte nehmen.
Widerstand und Kampf hatten zur Folge: 23 Tote und zwar 4 Gräner, 1 Frau und 1 Kind aus Wien, 1 Ukrainer und 1 Lettländer, 15 deutsche Angehörige des RAD. 5 Personen verwundet, 15 Häuser abgebrannt, fast alle Häuser, auch die Kirche beschädigt.
Eine Woche später kamen Franzosen, Marokkaner, auf der Suche nach Mädchen nach Grän. Bei dieser Gelegenheit wurden 3 Personen (1 Gräner und 2 Lettländer) erstochen, so dass die Zahl der Todesopfer im Ganzen 26 beträgt.
Eine eigentliche Chronik der Gemeinde Grän gibt es nicht. Die Gemeindekanzlei hat keine weitgehenden Aufzeichnungen über diese Tage. Was sie überliefern kann, entstammt den Eintragungen im Sterbebuch von Pfarrer Albert Schedler, damals schon 22 Jahre im Ort tätig. Er ist die einzige mündliche und schriftliche Chronik dieser Tage. Er hat die Soldbücher der Verwundeten und Gefallenen gesammelt und daraus abgeschrieben, was bedeutend war. Es hat sich damals, in diesen Wochen äußerster Existenznot, kein Mensch um die Festhaltung der Ereignisse gekümmert. Der Pfarrer stand mitten in der Gefahr, die er mit allen teilte. Aber auch er konnte nicht alles übersehen, was im Ort, im Engetal, an den Rändern der Wälder geschah. So hat er z.B. keine Eintragung im Sterbebuch, wonach ein Fremder einen unbekannten Toten eigenmächtig beerdigt hat. Darum seine Meinung: "Die genaue Zahl der Toten ist nicht leicht festzustellen."
Das verlorene Dorf
Im Tannheimer Tal hatten am Sonntagvormittag amerikanische Truppen vorgefühlt und waren auf Widerstand gestoßen. Von den verschiedenen deutschen Kolonnen, die Tage zuvor durch das Tal gezogen waren, waren keine Soldaten zurückgeblieben. Aber sie hatten im Engetal Verschanzungen und Wegzerstörungen durchgeführt. Zudem waren am 28. 04. vom Ortgruppenleiter von Grän noch Kampftruppen angefordert worden; meist junge Burschen vom Reichsarbeitsdienst (RAD). Vom untersten Haus in der Enge, fielen Schüsse gegen den anrückenden Feind. Das Haus wurde sofort in Brand geschossen.
Die Deutschen hatten tags zuvor auf der Höhe, oberhalb der Michaelskapelle, Geschütze aufgestellt, ebenso am Kirchplatz. Am Sonntag den 29. April zogen sie nach Haldensee hinüber, an den Rand des Ortes und des Waldes. Hilfe hatten sie keine. SS-Truppen, die in Tannheim waren, hatten sich in den Bergen zerstreut.
Die Ortsbevölkerung war um diese Zeit nicht mehr im Dorf; ein Teil war schon am Samstag weggegangen. Am Sonntag hatte der Pfarrer noch etwa 30 Personen im Gottesdienst; dann verließen sie sofort das Dorf, der Pfarrer selber um 12 Uhr. Die meisten Leute flohen in die angrenzenden Wälder, aber gerade im Osten, wo man sich am sichersten glaubte, gab es Verluste bei der Zivilbevölkerung.
Im Dorf hatte man am Vormittag mehrfach das Schießen im Engetal gehört. Zwischen Enge und Lumberg gab es mehrere Tote. Die Angehörigen des RAD zogen sich von dort zurück. Gegen 14 Uhr kamen amerikanische Panzer und einige Truppen in Sicht. Beim Widerstand der deutschen Geschütze zogen sie sich zur Enge hin zurück und nahmen das ganze Gelände unter Feuer. Die Splitter der Panzergranaten machten die ganze Gegend unsicher. Auch bei jenen, die in Deckung waren, gab es Tote und Verwundete.
Dann hörten die Kämpfe auf. Die Deutschen zogen gegen den Gaichtpass ab. Um diese Zeit aber hatte die Beschießung aus dem Pfrontner Tal über den Breitenberg schon eingesetzt; nicht schlimm für die Menschen, aber für die Häuser! Von den 45 Häusern von Grän brannten 15 nieder, dazu die Schule und teils auch die Kirche. Bei der Schießerei des Nachmittages hatte eine Granate den Altar der Michaelskapelle getroffen; ein Splitter hatte die starke Einbanddecke des großen Messbuches bis tief in die Seiten hinein durchschlagen. In den Resten eines abgebrannten Hauses wurde das Skelett eines Mannes gefunden. Über 50 Stück Großvieh waren in den brennenden Gehöften umgekommen.
Die Verwundeten wurden im Hausgang des Pfarrhofes verbunden; einige kamen in das Lazarett Pfronten und in das Lazarett Füssen. Die Toten wurden gesammelt und zunächst hinter dem Pfarrhaus niedergelegt, dann für die Beurteilung des Arztes am Mittelgang des Friedhofes aneinandergereiht. Da die Leute von Grän mit sich selber zu tun hatten, hoben Männer von Tannheim und Nesselwängle ein Massengrab aus. Die Toten von Grän wurden im Friedhof beerdigt, die Lettländer, (Angesiedelte und Flüchtlinge) in einem eigenen Friedhofsteil, 13 Tote im Massengrab. Am 10.05. wurden die von den Marokkanern Ermordeten beerdigt. Die Leichen der Fremden wurden später exhumiert und in Innsbruck begraben.
Vor der Gräner Kirche stellten die Amerikaner ein Geschütz auf, das von Zeit zu Zeit einen Schuss in Richtung Tannheim abfeuerte. In der Nacht vom 29. auf den 30. April blieben die Amerikaner in den noch bestehenden Häusern; am anderen Morgen zogen sie sich zurück. An diesem Morgen durften mit Erlaubnis des Ortskommandanten die Glocken wieder zur Messe läuten.
Die Amerikaner waren abgezogen, ohne eine Besatzung am Ort zu lassen. Acht Tage später kamen von Hindelang her Marokkaner. Wenn sie getrunken hatten, wurden sie aggressiv. So sind in einem Anwesen nachts drei Personen erstochen worden: der Hausherr, ein Lettländer und dessen junge Frau. Die Marokkaner nahmen mit, was sie brauchen konnten und zogen sich nach Tannheim zurück, wo die Amerikaner eine große Zahle von Frauen und Mädchen, die im Pfarrhof Zuflucht gesucht hatten, vor deren Zudringlichkeit bewachten.
Grän ist wiederaufgebaut und steht freundlich einladend im grünen Hang. Einstein, Lumberger Grat und Tannheim. Möge die Stille über dem Ort und sein Wiederaufbau ein hoffnungsvolles Zeichen für eine weitere friedvolle Entwicklung sein.
Quelle: Museumsverein Tannheimer Tal