Das Urteil (1874)
Aus: Innsbrucker Nachrichten vom 3. Juli 1874
(Aus dem Schwurgerichtssaale.) Die Verhandlung, welche gestern in Angriff genommen wurde, lenkte wegen der strafgerichtlichen Bedeutsamkeit des Falles das Interesse des Publikums in erhöhtem Maße auf sich. Als Angeklagter steht der neunzehnjährige Kesselflicker Tomaso Delorenzo vor dem Dreirichterkollegium, welches aus dem Präsidenten Dr. Ferrari und den Landesgerichtsräthen v. Lutterotti und v. Gasteiger zusammengesetzt ist. Die Anklage lautet auf das Verbrechen des verübten Todtschlages und der schweren körperlichen Beschädigung und wird vom Staatsanwalts-Substituten v. Reinisch vertreten. Wir entnehmen der Anklageschrift folgende wesentliche Momente:
Am 20. März d. J. war in Reutte Markt und hatten sich hiezu mancherlei Leute aus der näheren und weiteren Umgebung eingefunden. Wie es bei solchen Gelegenheiten üblich ist, erfreuten sich die Wirthshäuser des Ortes eines lebhaften Zuspruches und war der Konsum von geistigen Getränken seitens der Marktbesucher ein höchst respektabler. Auch beim Mohrenwirth hatte sich eine Gesellschaft fröhlicher Zecher eingefunden, darunter die Bauernburschen Johann Martin Bayrer aus Unterletzen, Josef Bayrer aus Pflach, ein gewisser Lob und dessen Vater. Der Letzterwähnte hatte dem Weine des Mohrenwirthes wohl am stärksten zugesprochen, denn er excedirte in der Gaststube trotz seines gesetzten Alters wie der ärgste jugendliche Spektakelmacher Abseits vom Tische, an welchem diese Männer saßen, befand sich an einem zweiten Tische ein Häuflein Italiener, ihres Zeichens Pfannenflicker, darunter ein sicherer Casperini und der angeklagte Delorenzo, sonst auch Tobolo genannt. Der alte Lob gerieth nun nach einem beiderseits mit Heftigkeit geführten Wortwechsel mit Casperini in's Handgemenge, sein Sohn und die übrigen Deutschen mischten sich mit mehr oder weniger Energie in den Handel und allmälig ward die Rauferei eine allgemeine. Da schlug Delorenzo die über dem Tische hängende Petroleumlampe in Trümmer, zog aus der äußeren Tasche seiner Joppe ein etwa fünf Zoll langes Schnitzmesser und stieß in der entstandenen Dunkelheit auf's Gerathewohl um sich. Nachdem er seine erste Wuth gedämpft hatte, verließ Delorenzo den Kampfplatz, eilte durch die Küche in's Freie und warf das Mordinstrument auf den naheliegenden Düngerhaufen. Als er hieraus in's Gastzimmer zurückkehrte, sah er, wie Josef Bayrer, die Brust mit Blut bedeckt, zur Erde sank und Johann Martin Bayrer aus einer Schulterwunde blutend am Tischs saß. Es war mittlerweile ruhig geworden in der Stube und nicht lange stand es an, so war Josef Bayrer, ein frischer, robust gebauter Mann von siebenundzwanzig Jahren stille geworden für immer.
Bald fand sich eine Abtheilung k. k. Gendarmerie beim Mohrenwirthe ein und nahm die Verhaftung Delorenzo's vor, denn die Stimme Aller bezeichnete diesen als den Urheber des schrecklichen Unglücks. Die Gerichtskommission, welche zur Aufnahme des Thatbestandes erschienen war, konstatirte bei Josef Bayrer eine 2 Zoll tiefe Stichwunde in die Rippengegend, durch welche die Spitze des Herzens durchschnitten und der Tod nothwendigerweise herbeigeführt wurde. Johann Martin Bayrer hingegen hatte eine 3 Zoll tiefe Schulterwunde davongetragen, welche als an und für sich schwer Bezeichnet werden mußte. Der Angeklagte, ein wohlgebauter Mann von mittlerer Größe, der im Ganzen einen keineswegs unangenehmen Eindruck macht, gestand in der Voruntersuchung, er habe allerdings von einem festen Messer Gebrauch gemacht, aber lediglich im Zustande der Nothwehr gehandelt, da er von einem Unbekannten angepackt und bedroht worden sei. Indeß ist nach Ansicht der Staatsbehörde und nach Angabe der Augenzeugen von einer Nothwehr thatsächlich keine Rede gewesen. Auch bei der Schlußverhandlung verlegt sich Delorenzo auf eine Darstellung des Sachverhaltes, die es mit der Wahrheit nicht allzuernst nimmt. Obwohl das Messer, das auf dem Misthaufen nächst dem Mohrenwirthshause gefunden worden ist, genau in die Scheide paßt, welche man an dem Platze, wo der Angeklagte in der Wirthsstube saß, antraf, so läugnet er doch hartnäckig, daß dieses das von ihm verwendete Instrument gewesen sei und will glauben machen, er habe mit einem kleineren Messer und zwar nur ein einziges Mal zu seiner Vertheidigung ausgeholt. Ueber die Art befragt, wie Delorenzo den Streich geführt, geräth er mit sich selbst und mit dem Gutachten der Sachverständigen in arge Widersprüche, welch' Letztere apodiktisch behaupten, der Stoß gegen den Körper des Josef Bayrer müsse mit großer Gewalt von "oben und außen, nach innen und unten" erfolgt sein.
Daß die Verletzung als eine absolut tödtliche erklärt wurde, haben wir bereits erwähnt. Was den Johann Martin Bayrer anbelangt, so gab Delorenzo anfänglich nicht zu, auch diesen verwundet zu haben, rückt indeß allmälig mit einem ziemlich umfassenden Geständnisse heraus. In neuerliche Widersprüche mit den bestimmten Aussagen der vernommenen Zeugen verwickelt sich im Anschluß Delorenzo in seiner Darstellung des in der Stube herrschenden Gedränges und namentlich mit der Angabe, er sei an der Zertrümmerung der Oellampe unschuldig. Um die Mittagsstunde wurde das Beweisverfahren geschlossen.
Nach der Wiederaufnahme der Verhandlung um 4 Uhr Nachmittags wurden folgende vom Gerichtshofe mittlerweile formulirte Fragen an die Geschworenen zur Verlesung gebracht:
1. Hauptfrage: Ist Tomaso Delorenzo schuldig, am 20. März 1874 Abends im Markte Reutte den Josef Bayrer aus Pflach, zwar nicht in der Absicht, ihn zu tödten, aber in einer anderen feindseligen Absicht einen Stich in die Brust versetzt und dadurch eine Verletzung beigebracht zu haben, welche den Tod des Josef Bayrer unausbleiblich zur Folge hatte?
2. Hauptfrage: Ist Tomaso Delorenzo schuldig, bei demselben Anlasse auch dem Johann Martin Bayrer von Unterletzen, zwar nicht in der Absicht, ihn zu tödten, aber doch in einer anderen feindseligen Absicht, mit einem Messer einen Stich an der linken Schulter und hiedurch eine Verletzung beigebracht zu haben, welche nach dem Gutachten der Sachverständigen schon an und für sich eine schwere war und überdies eine einundzwanzigtägige Berufsunfähigkeit und Gesundheitsstörung des Johann Martin Bayrer zur Folge hatte?
Zusatzfrage zur 2. Hauptfrage im Falle der Bejahung derselben:
Erfolgte der Angriff auf Johann Martin Bayrer und dessen Verletzung mit einem solchen Werkzeuge und auf solche Art, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist und in tückischer Weise?
Eventualfrage im Falle der Verneinung der 1. und 2. Hauptfrage: Hat Tomaso Delorenzo bei der Verletzung des Josef Bayrer und des Johann Martin Bayrer in Ausübung gerechter Nothwehr gehandelt?
Zusatzfrage zur Eventualfrage im Falle der Bejahung derselben: Hat Tomaso Delorenzo die Grenzen der Nothwehr überschritten?
Das Plaidoyer des Vertreters der Staatsbehörde befaßt sich mit der entschiedenen und vollinhaltlichen Aufrechthaltung der Anklage. Als Motiv der That müsse das Gefühl der Rache gegen den Angreifer von Delorenzo's Freund Giuseppe Casperini und das beleidigte Nationalgefühl betrachtet werden. Der Angriff auf die beiden Bayrer sei ein tückischer gewesen, da der Angeklagte ein Moment benutzte, in welchem sich keiner von Beiden eines Ueberfalles versah. Der Vertheidiger Dr. Johann Praxmarer bestritt in breiten Worten die Urheberschaft Delorenzo's bezüglich beider Fakta. Der Umstand, daß die Pflacher mit den Mohrenwirthsleuten auf gespanntem Fuße standen, mache es gar nicht unwahrscheinlich, daß jemand Anderer als Delorenzo die beiden Handlungen verübt habe. Auch aus mehreren Zeugenaussagen und den Lokalitätsverhältnissen der Gaststube ließe sich diese Annahme folgern. Würde man indeß trotzdem den Angeklagten als Thäter ansehen, so sei jedenfalls der Zustand der Nothwehr zu berücksichtigen, einer Nothwehr, die Wohl in keiner Weise überschritten worden sei. Die Antwort der Geschworenen war auf die 1. und 2. Hauptfrage, sowie auf die Zusatzfrage zu letzterer bejahend, so daß die weiteren von selbst entfielen.
Obmann war wiederum Prof. Dr. Baumgarten. Als Erschwerungsgründe für die Strafe führte der Hr. Staatsanwalt die Konkurrenz zweier Verbrechen und den großen Schaden, welchen Johann Martin Bayrer davon gehabt, als mildernde Umstände hingegen das jugendliche Alter des Angeklagten, seine tadellose, ja belobte bisherige Lebensweise und die große Aufregung an, in welcher Delorenzo seine That beging. Der Gerichtshof sprach demgemäß eine siebenjährige schwere und verschärfte Kerkerstrafe über den Angeklagten aus, der nach Abbüßung dieser Strafe aus sämmtlichen Kronländern der österreichisch-ungarischen Monarchie ausgewiesen wird. Der greise Vater des Verurtheilten wohnte der ganzen Verhandlung bei und saß, in stillem Gram versunken, regungslos und düster im Zuschauerraume. Wer mag die Gefühle dieses ehrenhaften Mannes beschreiben, die sich seiner bemächtigten, als er das verdammende Urtheil über den eigenen Sohn aussprechen hörte!
Abschrift aus dem Totenbuch der Pfarre Breitenwang:
März 20 halb zehn Uhr abends / Jüngling Josef Beyrer geboren zu Pflach am 26. Mai 1846, ehelicher Sohn des Fuhrmanns Josef Anton u. der M. Walburga Wachter
Die Leiche wurde nach gerichtlicher Leichenschau (Section) im hiesigen Gottesacker am 23. März (?) früh begraben.
An Herzblutung infolge Lungen u. Herzverletzung durch seinen Mörder