Sommerbriefe

Carl Spitzweg - Der Geologe (etwa 1860)
"...ich hänge mir also den Rucksack um, greife zum richtigen Wanderstabe in deutschen Landen, zum Regenschirme, und ändere von Grund auf das Tempo sowohl wie die Richtung. [...] Es sind zwar keine neuen Wege und Orte, indeß jeder sieht sie mit neuen Augen und wirft neues Licht auf die bekannten Gegenstände, so daß dem Leser doch wieder Neues geboten wird...
;Die bairischen Alpen fallen schroff ab gegen die weiten Hügellande, die sie überragen, und sind an großen Strecken von diesen durch sumpfige Flächen geschieden. Daher sind die zahlreichen Eingänge sehr ausgesprochen wie Thore, man durchschreitet nicht erst lange Gebirgstheile von minderen Elevationen, die doch noch zu den Alpen gehören, wie es so oft in Ober- und Nieder-Oesterreich der Fall ist. Solche Thore sind bei Oberndorf, Hohenschwangau, Oberammergau, Partenkirchen, am Kochelsee, bei Tölz, Tegernsee, Schliersee, am Inn und an der bairischen Traun eine große Zahl. Aber sie führen alle in das ganz nahe Tirol oder in das Salzburger Land...
Am Plansee in Tirol
Im Fremdenbuche auf dem hohen Peissenberg stehen folgende Verse aufgezeichnet, am Pfingstmontag dieses Jahres von einem Bürger der Nachbarorte eingeschrieben:
Drüben liegt in grauer Färbung
Uns'res Königs Lieblingssee.
Kann heut' nicht hinunterblicken
Ohn' der Seele tiefstes Weh.
Drüben ragen Schwangau's Zacken
Eingehüllt in Wolkenflor,
Düster lagern sich die Wolken,
Alles kommt mir traurig vor!
Solche Klänge aus den breiten Schichten deuten auf viel Herz und hohe Cultur, und wir steigen jetzt in Gaue nieder, wo das Herz geblutet hat, wo das ganze Volk eine große Anhänglichkeit an die Person des verunglückten Königs hatte und von der Katastrophe tief erschüttert worden ist.
Am südlichen Rande des Berges, wo dieser schroff abfällt, blickt man über wellige Hochlande hinaus auf das ganze Gebiet hin, welches den hohen Einsiedler mehr und mehr gebannt hielt, durch seinen eigenartigen Zauber sowohl als durch die Nester, die er sich hineingebaut hatte, um seinem beschaulichen Dasein zu fröhnen. Rechts ragen die Zacken auf, an deren Fuße Hohenschwangau und Schwanstein steile Felsen krönen, von Seen umflutet; daran schließen sich die Felskronen des Plansee, an dessen Ufer entlang die Straße nach Linderhof kunstvoll gebaut ist, dann kommen die Eingänge nach Oberammergau und Partenkirchen, über denen die mächtigen Wettersteine silberglänzend in den Aether ragen. Hoch an den Wänden dieses Gebirges klebt wie ein Schwalbennest das Königshaus auf der Scharte. Links schließen dieses Gebiet ab der Heimgarten und der Herzogstand und die Karspitze, unter welcher an den Zoidenseen das Schloß steht, während phantastische Sommerhäuser auf den Höhen verstreut liegen. Alle diese Oertlichkeiten sind durch gute Fahrwege verbunden, und das königliche Gespann jagte von einer zur anderen. So war das ganze Volk gewöhnt, den Herrn jahraus, jahrein zu sehen, während die Millionen im weiten Königreiche ihn nur noch aus Photographien kannten...
...denn nun heißt es diesen Waldwegen nachgehen, um endlich einmal wieder irgendwo eine menschliche Spur zu finden. Da fehlt aber auch jede und der Mensch selbst dazu. Es überkommt einen nach und nach in diesen tiefen Bergfalten unter den düsteren Schrofen ein Gefühl der Bangigkeit, das auf den Höhen in den weitesten Oeden nie vorkommt, eine innere Beklommenheit. Bei irgend welchem Zufalle, der einen verhinderte, weiter zu schreiten, könnte man hier, wie mir nachher Eingeborne bestätigten, tagelang auf einer so schön und freundlich anzuschauenden Straße liegen, ohne daß Hilfe käme. Der Weg war eben nur für einen König gebaut. Endlich kam eine menschliche Spur, und zwar eine sehr bedeutsame, der schwarzgelbe Pfahl mit der Aufschrift: "Gefürstete Grafschaft Tirol". Die Berge wurden immer gewaltiger, der Wald immer dichter, bedeutender, hochstämmiger, einmal ein echter, wirklicher Wald... [...]
...führte mich um so rascher zu einem Hirtenbuben, dem ersten Menschen, dem ich dann auch gleich nützlich sein konnte. Er frage mich nämlich sehr hastig, wo ich Vieh gesehen hätte, und daß ließ mich darauf schließen, wie der arme Kerl gegen Abend manchmal in den Wäldern und Schluchten umhersuchen mag, um die Heerde nach der Sennhütte zu bringen. Ich erreichte dann diese Hütte oder vielmehr diese große Schweig, setzte mich auf den Brunnentrog...

Gasthof Forelle

Gasthof Forelle und alte Zollstation

der Plansee

der Kaiserbrunnen
...gegen die Dämmerung erreichte ich den Plansee und das kleine Einsame Wirthshaus "Zur Forelle", in dem ich gute Unterkunft fand, um von langer Wanderung zu ruhen.
Bei der Wanderung durch die Waldschluchten vom Linderhof hinauf waren Einsamkeit und Verlassenheit die naturgemäßen Erscheinungen, nun aber breitet sich vor den Augen ein großer, lichtblauer See aus, von schönen Bergen mannigfach umgeben, und dieselbe Einsamkeit bleibt bestehen. Ebenso dauert sie, wie mir ein vorbeiziehender Wandersmann mittheilte, jenseits des Sees noch Stunden weit fort, und ich selbst erprobte sie in einer dritten Richtung gegen Partenkirchen hinaus den folgenden Tag — ein großes, schönes, unbewohntes Land! Das kleine Wirthshaus "zur Forelle", das Haus des Grenzwächters und eine Sennhütte sind die abgelegene Oase, die dem Wandersmann in diesen furchtbaren Waldöden Labsal und Ansprache bieten. Ein paar Fischerhütten am jenseitigen Ufer, die dem Wirthe gehören, sind außerdem das einzige Zeichen von Menschenleben, keine Laubhütte, kein Heustadel, nichts derart ist sonst zu sehen. Auf den Bergen sind keine Almen, denn weit und breit ist keine Ortschaft, die sie beschicken könnte, es führen keine Wege auf die Höhen, denn niemand wohnt hier, der sie besteigen könnte, man kann keinen Führer zur Besteigung dingen, denn wo sollte der hergenommen werden! Das ist wohl heutzutage in unseren Alpen ein staunenerregender Anblick. Der Wirth ist von seinen Vätern her der Eigenthümer dieses ganzen Sees und eines zweiten, der sich daranschließt. Er und sein Vater besorgen ganz allein den ausgiebigen Fischfang. Eine gute Stunde gegen Westen, am Seespitz, den man von hier aus nicht sehen kann, hat ein Bozener Wirth für die Sommermonate eine zweite Wirthschaft aufgeschlagen, und der darf nicht einmal einen Kahn auf dem Wasser haben, weil dieses volles Privateigenthum ist.
Unmittelbar am steilen Ufer des Sees zieht sich eine Kunststraße hin, von König Max von Baiern zu seiner eigenen Bequemlichkeit erbaut und den sonderbarsten Gegensatz bildend zu dieser unbewohnten Welt. Kein Stellwagen benützt sie — wo sollte er hinfahren? Ganze Tage kommt kein Fuhrwerk des Weges, es ist auch keine Postverbindung mit der "Forelle" vorhanden. Die Briefe der wenigen Sommergäste, die sich aufhalten, werden durchwandernden Bauern und Hirten anvertraut. Von vier Gemeinden Tirols, die zunächst Vortheil von diesem vortrefflichen Wege haben, ist dem Könige auf der stillen Wiese ein Denkmal errichtet worden mit einer Inschrift, welche den Dank für die Wohlthat ausspricht. Ein anderes, sehr hübsches Denkmal, mit steinernen Ruhebänken zu den Seiten, hat der König dem Kaiser Ludwig dem Baiern errichtet, der hier gejagt hat. Es ist wohl irrthümlicher Weise den zweiköpfigen Adler daran angebracht, der, so viel ich weiß, dem Hause Oesterreich gehört. Man spaziert also von Baum zu Baum, von Fels zu Fels, ohne Ziel, nimmt ein Bad, unmittelbar an der Straße, ohne die Besorgniß, es möge jemand des Weges kommen, und flüchtet sich wieder zu dem kleinen, verbannten Rudel Menschen. Aber das Wirthshaus macht seinem Namen Ehre. Forellen und Saiblinge werden einem aufgetischt von ungewöhnlicher Größe und Güte, und ein vortrefflicher Tiroler-Wein dazu credenzt. Das mundet nicht übel auf all die Kalbschnitzeln mit Bier der letzten Tage! Dahin lenke seine Schritte, wer sich einmal an guten Fischen sattessen will. Am Abend waren die Kinder zu Bett gebracht, der Wirth war auf dem Fischfange drüben und blieb auch die Nacht in der Fischerhütte, weil Abends spät und Morgens ganz früh die ergiebigsten Stunden sind, und die übrige kleine Menschengruppe saß vollzählig mit mir am Tische, die Frau Wirthin, der Grenzwächter, die Kellnerin, der Hausknecht und die beiden Mägde. Es wurde ein Kartenspiel hergenommen...
Winzer setzt seine Reise über die Neidernach fort, besucht Partenkirchen und Mittenwald und steigt über den Zirler Berg hinab nach Innsbruck. Es dauert mehrere Wochen, bis er wieder den Weg in Richtung Plansee einschlägt. Was ihn aber dort erwartet, soll er selbst berichten:
Auch ein Besuch des Schlosses Linderhof bietet ein ähnliches Bild für den Wanderer. Auch hier überrennen die Massen das einst stille Schloss des Märchenkönigs: