Heimatkunde der Fraktion Kleinstockach und Bichlbächle (1928)
Serie aus: Außferner Bote; März 1928
1. Name. Stockach, vulgo Stockig, scheint seinen Namen von der stockigen Gegend an dieser Ache (Bach) erhalten zu haben. Wahrscheinlich wurde da ein großer
Wald ausgehackt und die Baumstöcke ausgerodet und an deren Stelle hölzerne Hütten, vielleicht Sennhütten für das Kloster Stams gebaut. Wie eine hiesige Chronik meldet, verlieh 1641 der damalige Prälat Bernhard von Stams den 'Kochen', 'Grießer', 'Klotzen', 'Zimmermann', die Felder, Wälder und Weiden in Stockach als Lehen und in der noch im Gemeindearchiv vorhandenen Verleihungsurkunde werden folgende Grenzen, die heute noch Geltung haben, angegeben: 1. Das Gartnerjoch, 2. die Nassereitheralpe, 3. die Bichlbacher und 4. die Berwanger Gerechtigkeit. Im Schematismus der Diözöse Brixen für das Jahr 1847, wo der erste Expositus angeführt wird, heißt es 'Kleinstockach' zum Unterschied von Stockach im Lechtal, da beide zur
gleichen politischen und kirchlichen Behörde (Bezirkshauptmannschaft und Dekanat) gehören.
2. Lage. Kleinstockach, Bichlbächle liegt in 'Zwischentoren,' also teils eingeschlossen zwischen dem Fernsteinschloßtor und Ernbergschloßtor, teils eingerahmt von den natürlichen Toren, den hohen Bergen. Weil die Siedlungen zwischen hohen Bergen und Geländen liegen, heißt man sie im Volksmund "im Berg". Beide Fraktionen liegen an Hangleisten und sind eine Viertelstunde von einander entfernt. Die beiden Siedlungen sind zwar unmittelbar nicht durch Hochwasser und
Muren, da die Siedlungen am Hang liegen, wohl aber im Winter durch Staublawinen bedroht. Eine solche Staublawine hat im Jahre 1910 in Kleinstockach Verheerungen angerichtet. Sonst sind die Fraktionen, besonders Kleinstockach durch Baumwälder geschützt, was auch in der Platzwahl zum Ausdruck kommt. Ein außerordentliches Lawinenunglück lebt in der Erinnerung noch fort, das sich am 1. Februar 1844 ereignete, wo eine verheerende Staublawine zwei Häuser samt Inwohner begrub. Die Mühle im Talgrund in der Mitte zwischen beiden Fraktionen gelegen, (die Eltern und 5 Kinder tot) und ein Haus unterhalb der Kirche (Mutter, Tochter und 2 erwachsene Söhne tot). Aus Anlaß dieses Ereignisses wurde von den Fraktionsgemeinden im Jahre 1849 das Gelübde gemacht, den 1. Feb. alljährlich als einen gebotenen Feiertag zu begehen (Lähnfeiertag), um von Gott die Abwendung derartiger Unglücke zu erbitten. (Protokoll im Expositusarchiv).
3. Bodenbeschaffenheit. Die Siedlungen sind teils auf Fels, teils auf lockeren Untergrund gebaut.
4. Wasserverhältnisse. In unmittelbarer Nähe (10 Minuten entfernt) sind die Quellen, welche die einfachen schmucklosen Brunnen speisen. Ziehbrunnen gibt es nicht.
5. Klima. Die Siedlungen schauen gegen Südwesten und ist die Anlage der Häuser so vorgenommen, daß sie den oft sehr heftigen Südostwinden nicht so ausgesetzt sind.
6. Form der Siedlung. Die Baulichkeiten von beiden Fraktionen sind je an einem Platz vereinigt — Einzelhöfe gibt es nicht. Die Häuser sind nicht aneinandergebaut, sondern durch kleine Gässchen getrennt. Sowohl die Bodenbeschaffenheit (Hangleisten) als auch die Bedrohung durch Lawinen erforderten die dorfartige Siedelung der einzelnen Fraktionen.
7. Kultusstätten, öffentliche Bauten etc. Ueber die Entstehung der Kirche schreibt die Chronik: 'Die Veranlassung dazu war die weite Entfernung von der Mutterkirche Berwang, als auch von der Kirche in Bichlbach, zu der Stockach leicht hätte geschlagen werden können. Hauptursache der viele Schnee in jedem Winter und die Lawinengefahr auf allen Seiten'.
Weil die alte Kapelle in Stockach (Maria Flucht nach Aegypten) zu einer Expositurkirche zu klein war (276 Schuh) und nur ein Vermögen von 1720 Fl. R. W. besaß, auch die Bewohner nur wenig bemittelt waren, kamen sie auf den Gedanken, um die Bewilligung einer milden Sammlung im Lande Tirol und Vorarlberg von Haus zu Haus einkommen zu müssen. Vom Kreisamt Imst abgewiesen, wandten sie sich an das H. Gubernium in Innsbruck. Dieses bewilligte mit Gub. Dekret vom 30. 4. 1839 die angesuchte Sammlung. So sammelten je 2 und 2 in drei Jahren die ganze Provinz Tirol und Vorarlberg 2 mal ab und brachten 8000 Fl. für den Priester, 6000 Fl. aber zur Erbauung der Kirche und des Widums zusammen. Eine großartige Sammlung in der Tat! Besonders gut fiel die Sammlung im untern Inntal aus (1400 Fl.) Ganz gut auch in Vorarlberg.
Ueber die Aussteckung des Bauplatzes erzählt die Chronik: "Als der Platz zur neuen Kirche sollte ausgesteckt werden, gab es einen Streit zwischen Stockach und
Bichlbächle, indem jede Partei die Kirche an ihrem Ort haben wollte. Wenigstens verlangten die Bichlbächler, die Kirche soll bei der 'Mühl' auf der unteren Aue (1844 verlähnt) erbaut werden. Vom Kreisamt Imst wurde deshalb der G. b. Straßenmeister in Reutte von Peusser als Kommissär beordert, den tauglichsten Platz zu finden. Das Resultat war: Die Kirche muß an den Platz, wo sie jetzt steht, denn in Bichlbächle und bei der 'Mühl' ist Lawinengefahr, bei der Mühl stünden Kirche und Widum isoliert und somit dem Raub und Einbruch ausgesetzt."
Das Schulhaus ist in Stockach und soll nahe bei der Kirche und Widum sein dictum factum und so steht die neue Kirche am Platz der alten Kapelle etwas näher am Berg. Am 23. Mai 1842 wurde der Grundstein zur Kirche gelegt. Der Kirchenbau wurde in zwei Jahren vollendet. Der neue Widum 1843 erbaut. Die Kirche wurde am 27. Juli 1847 von Weihbischof Georg Prünster von Feldkirch eingeweiht - zu Ehren u. lb. Fr. Maria Heimsuchung.
Der Friedhof liegt bei der Kirche und wurde zugleich mit der Kirche angelegt. Vorher wurden die Leichen im Pfarrfriedhof von Berwang beerdigt. Ein kleines Beinhhaus ist ebenfalls vorhanden, jedoch nicht geordnet. Originelle Begräbnisbräuche gibt es hier nicht. Meist gußeiserne Kreuze und an den Wänden der Kirche Marmortafeln, Gräberzier ländlich einfach ohne jede Beleuchtung. Die Kirche in Kleinstockach ist eine Wallfahrtskirche, die früher mehr besucht war. Die wenigen Wegkreuze verdanken ihre Entstehung ohne Zweifel den Elementarereignissen (Lawinen) dieser Gegend.
8. Gewerbe. Es besteht eine kleine Säge, die lediglich als Gemeindeindustrie betrieben wird und gegen geringes Entgelt das Blockholz der einzelnen Hausbesitzer für Kleinstockach und Bichlbächle bearbeitet. In vielen Häusern wird zur Winterszeit der Spinnrocken in Bewegung gesetzt und in einem Hause noch der Webstuhl. Zur Sommerszeit zieht die von der Heimartbeit entbehrliche, männliche Jugend auswärts, um in Holzarbeit und als Maurer Verdienst zu suchen - ins Bayrische oder in die nahen Grenzgebiete. Während der Winterszeit ist meist wieder alles beisammen, da entsprechende Verdienstmöglichkeit eben fehlt. Sonst sind hier die Leute in allen Maurer- und Holzarbeiten sehr geschickt. Sie reparieren, ja bauen ihre Häuser allein, schaffen sich selbst die Einrichtung, sind also Wagner, Tischler, Binder, Glaser, selbst Schuhmacher, Maurer, Anstreicher, etc. Die Hauptbeschäftigung bleibt Ackerbau, Landwirtschaft und Viehzucht.
9. Bergwerke bestehen nicht.
10. Lage zum Verkehr. Die Siedlung liegt eine halbe Stunde von der Bahnstation Bichlbach entfernt. Der Fahrweg von Bichlbach nach Berwang zweigt nach 20 Minuten gegen Südosten ab nach Kleinstockach und geht von da an als Alpenvereinsweg übers Jöchle zum Fernpaß oder über Bichlbächle und über das Gartnerjoch nach Lermoos.
11. Grenzen. Die Grenzen laufen den Rändern der Waldflächen, Bergwiesen und Gebirgsgraten entlang und bilden so eine selten schöne, natürliche geschaff. Linie.
12. Entstehung der Siedlung bereits Eingang behandelt, (siehe 1).
13. Aufgegebene Siedlungen. Es sind sowohl in Kleinstockach wie in Bichlbächle mehrere Siedlungen aufgelassen worden, was teils durch Aussterben, teils durch Abwanderung verursacht wurde.
II. Hausbau. Beschreibung des Hauses: Die Häuser sind meist an den Hang eingebaut und laufen die Firstlinien größtenteils quer zur Talachse. Die Häuser besitzen Parterre und ersten Stock und sind unterkellert. Die Häuser sind teils gemauert, zum größeren Teil jedoch Holzaufbau und ganz, oder teilweise (bis über das Stockwerk) mit Tünche versehen. Ornamente, Söller etc. sind nicht vorhanden. Die Fenster haben normale Größe und liegen in gleicher Höhe. Es gibt nur Einheitshäuser und führt eine Tür direkt zum Stallanbau. Die Dächer sind mit Scharschindeln belegt. Die Giebelfelder sind teils mit Bretterverschalung teils mit Mauerwerk versehen. — Keine Zier, keine Dachreiter. Besondere Eigentümlichkeiten weisen weder Küche noch Keller auf. Offene Herde wurden aufgelassen, jedoch weisen die berußten Gewölbe über den Sparherden auf solche hin. Backofen ist der Stubenofen und wird derselbe meist von der Küche aus beschickt. Funkenfänger sind teilweise noch vorhanden. Waschkessel sind in der Küche eingemauert. Der Stubenofen ist gemauert und in länglicher Form gewölbt, da er eben als Backofen dient; sogenannte Kemme gibt es noch in einzelnen Häusern. Einen zweiten heizbaren Raum haben die wenigsten Häuser, der Nebenraum "Gaden" wird durch den Stubenofen geheizt und in die Nebenkammer (1. Stock) führt eine Oeffnung die Wärme vom Stubenofen. Der Aufgang in den Oberstock wird im Innern des Hauses durch eine Stiege vermittelt. Die Dachräume werden teils zur Unterbringung der Feldfrüchte verwendet, teils sind sie als "Baschglkamer" eingerichtet. Stall- und Futterräume sind verbunden und wird das Futter durch Oeffnungen in die Viehbarren eingeworfen. Schupfen zur Unterbringung der Feldgeräte sind der Stallung meist angebaut. Die Wiesenstädel sind gewöhnlicher Art und führen keine besondere Bezeichnung. Acker und Wiesland hat ein Ausmaß, daß der Ertrag durchschnittlich für 4 bis 5 Stück Großvieh und ebensoviel Kleinvieh ausreicht. Güterteilung ist mit größerem Ausmaß weder möglich noch üblich und geht der Hof auf einen Besitzer über, während die anderen Erben in Form von einem oder anderen Stück Viehes oder durch ein kleineres Grundstück entschädigt werden.
III. Heimwirtschaft. Beim Haus liegt ein Gemüsegarten, der mit Kraut, Knoflach, Salat, roten und gelben Rüben (Unter- und Oberkohlrabi) und mit etwas Blumen bepflanzt wird.
Ackerbau: Es gibt Felder, Wiesmähder und Bergwiesen. Außer Heu und Grummet sind die hauptsächlichsten Früchte Kartoffel, Gerste, Flachs und Bohnen. Die Bergwiesen reichen bis zu einer ungefähren Höhe von 1700 bis 1800 Meter, sind sehr steil und schwierig (meist mit Fußeisen) zu bearbeiten. Die oberste Bergwiese reicht bis zur Höhe der "Bleispitze." Die Aecker sind ziemlich parzelliert und von verschiedenen Ausmaßen und Formen. Die Kartoffeläcker werden gepflügt und zum Teil gehackt. Alte Holzpflüge sind noch vorhanden und werden benützt.
Wiesenbau: Wiesmähder, Bergmähder. Die Wiesen werden einmal gemäht (ungedüngt, zum Teil Kunstdünger) [Wiesheu, Bergheu]. Die Arbeit auf den Feldwiesen fällt in die Zeit vom Ende Juli bis Ende August. Die Arbeit wird von allen männlichen und weiblichen Kräften besorgt. Das Heu wird teilweise an steilen Stellen mittels Tragseilen heruntergeholt. Das Heu wird in Tristen, Scheunen und Städeln verwahrt, bis es nach Einbringung der Grummeternte in Form von sogenannten Birten (Bürten) zu Tal gezogen und auf Holzschlitten (Blessling oder Schloapfen) auf die Heutennen gebracht wird.
Heimweide: Sowohl in unmittelbarer Nähe der Ortschaften (Auen, Wäldern und Rainen) als auch auf den beiden Almen bestehen Weiden, die Eigentum der Gemeinde sind. Obstbau und Weinbau wird natürlich nicht betrieben; historisch interessant scheint jedoch, daß ein sonniger Hang in Bichlbächle heute noch den Namen "Weinberg" führt. Es wird Lechtaler Viehrasse gezüchtet, während früher vor zirka 30 Jahren noch die graue Rasse vorherrschend war. Die Viehwirtschaft ist durchwegs seit jeher auf Aufzucht eingestellt. Bezeichnet wird das Vieh: Kühe, Kalben, Hoaler, Kalbelen (2 jähr.) und Kälber (junge). Früher hat man hier vorherrschend unter dem Jungvieh (Hoaler) gezüchtet. Ziegen und Schafzucht wurde wegen Unrentabilität aufgelassen.
IV. Almwirtschaft. Jede Fraktion (Kleinstockach und Bichlbächle) besitzt oberhalb der Waldgrenzen zirka 1500 Meter die eigene Alm. Jede Wirtschaft hat die
eigene Almhütte aus Holz, teils Blockhütten, teils Bretterhütten. Im Hauptraum jener Hütte steht der offene Herd von Bänken umgeben, ferner die Gerätschaften für die Milchwirtschaft u. s. w. Dieser Raum ist Küche und Stube zugleich. Anschließend daran und an Dachraum sind die Schlafstellen. Vom Hauptraum führt die Tür zum Stall. Man ist von Jakobi bis 1. September auf der Alm und siedelt in dieser Zeit die ganze Bevölkerung mit Kind und Kegel auf die Alm. Jede Alm ist zirka eine halbe Stunde von der Siedlung entfernt. Die Almen selbst sind Gemeindebesitz, ebenso die Weiden auf den Almen. In der Zeit des Almaufenthaltes werden die Bergwiesen bearbeitet, deren Erträgnis im Winter beim ersten Schnee zu Tal geschafft wird. Beim Abtrieb von der Alm wird das schönste und besterhaltenste Vieh bekränzt.
V. Forstwirtschaft. Der geschlossene Wald reicht bis zu 1500 bis 1600 Meter, einzelne Bäume bis zu 1800 Meter. Die gewöhnlichen Baumarten sind Fichte
und vereinzelte Buchen. Es gibt nur Gemeindewaldungen. Das Holz wird durch die Waldriesen zu Tal gefördert. (Schlag, Kahlschlag). Für diese Geräte bestehen keine originellen Bezeichnungen.
VI. Nahrung. Die Alltagskost sind Kartoffel in verschiedener Zubereitung, das Brot wird in jedem Hause im Stubenofen gebacken.
Die Bräuche und Sitten: Der Kirchtag, (Patroziniumsfest) wird feierlich begangen, mit reichlich guter Kost und mit abendlichem Tanz, ebenso bei Hochzeiten. Besondere andere Bräuche gibt es nicht. Außer den gewöhnlichen Bittgängen an den Bittagen werden keine anderen kirchlichen Gänge unternommen. Bauernfeiertage sind: Lähnfeiertag, siehe Nr. 7, Joh. d. Täufer (wegen Hagel), Martini (Viehseuche-Brand).
VII. Ortsnamen. Kleinstockach: Bergwiesenteile: Glitter, Bräntle, Meltere, Hösplroan, Ruf, (rauh) Innermahd.
Bichlbächle: Flurnamen: Blaise , Wilfling, Spießle, Kendele, Hölzle, Brunnig, Radert (rote Erde), Haberländer, Roggländer (vom ehemaligen Anbau an Hafer und Roggen), Weinberg. Gemeindegebiet Pudelsnapf (?), Urfall, Schloßkopf, (möglicherweise ist wegen dominierender Stellung hier eine kleine Burg gestanden). Da die Siedlung als solche mehr neueren Datums ist, dürften diese Namen weniger historische Bedeutung haben.