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Das Hütkinderwesen in Oberschwaben
Als Serie abgedruckt im Vorarlberger Volksblatt, April 1906
Wie bekannt, werden die Hütekinder auf dem sogenannten Junggesindemarkt in Ravensburg jedes Jahr von den Schwabenbauern gedungen. Manche Geschwister dieser Hütekinder kommen 4—5 Stunden weit auseinander, sodaß sie sich während des Sommers gar nie sehen können. Doch ein Kinderherz ist bald wieder getröstet, umsomehr, als die fremde Umgebung seine volle Neugierde erweckt. Sind dann beide Partien, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, einig, so nimmt ersterer den Buben oder das Mädchen sofort an sich, führt dasselbe zunächst ins Wirtshaus, wo er es traktiert, und fährt dann mit ihm auf seinen Hof. Dort angelangt, wird der neue "Ehehalte" der Bäuerin, den Familienangehörigen und dem Gesinde vorgestellt und erhält seine Liegerstatt angewiesen. Am andern Tag wird er in seine Dienstverrichtungen eingeführt und geht es gleich an die Arbeit. Das Hauptgeschäft dieser Jungen ist das Hüten der Rinder, Schafe, Schweine etc., dann das sogen. Mähnen, Mähnetreiben, d. h. das Leiten und Antreiben der Zugtiere beim Ackern. Zum Hüten des Kleinviehes und der Gänse werden auch Mädchen verwendet.
In Voreisenbahnzeiten wurde die ganze Reise zu Fuß gemacht. Die einzelnen Gruppen scharten sich um einen Führer, meistens einen bejahrten Mann oder eine ältere Weibsperson; wie Schafe um den Hirten wanderten sie dann die Gassen entlang in ärmlicher Kleidung, einen Reisestecken in der Hand und ein "Bündele" auf dem Rücken, das nebst dem Leinenzeug auch ein Stück Ziegenkäse und Haberbrot enthielt. Die Kost wurde von mildtätigen Leuten erbettelt, ebenso das Nachtlager. In dieser Beziehung litten sie auf der Wanderschaft selten Not, da die Leute den armen jungen Leuten, die ohnedies nicht zu beneiden waren, überall mit reichlichem Mahle aufwarteten. Auch wußte der Führer schon die Orte, wo er nicht vergeblich anklopfte. Droben auf dem Arlberg in der uralten Christophoruskapelle verrichteten sie noch ihre Andacht und nahmen dann Abschied von der teuren Heimat und den lieben Bergen. Endlich nach mehrtägiger angestrengter Wanderung und mancherlei Mühsalen erreichten sie ihr Ziel.
Aehnlich wurde es früher bei der Heimkehr gehalten. Da erschien wieder der Führer in Ravensburg (oder früher in Wangen, Tettnang oder Waldsee), um die anvertraute Schar abzuholen, und freudig wanderten alle, klein und groß, der Heimat und den lieben Angehörigen zu. Ihre verdiente Kleidung besteht aus leinenem zwilchgewirktem "Häs",(Hose, Juppe und "Leible") und aus starken "Bossen"(Halbstiefeln). Der Lohn richtet sich nach den Altersstufen, und'zwar früher von 6-8 oder 9 Jahren: 4—6 Mk., von 9-12 oder 15 Jahren: 6—12 Mark. In neuester Zeit ist er bis aufs Sechsfache und doppelte Kleidung gestiegen. Auf diese kleine Summe warten oft die Eltern schön lange, um Korn zu kaufen oder den Steuereintreiber zu befriedigen. Die Kleidung trägt jeder im vollgepackten Zwilchsack auf dem Rücken, das neue Paar Stiefel hängt darüber hinab.
Ueber diesen - euphemistischerweise oft "Menschen-, Kinder- oder gar Sklavenmarkt" genannten - Verdingungsmarkt, der allerdings in Württemberg nicht seinesgleichen hat, ist ja schon viel geschrieben und derselbe schon da und dort zum Gegenstand der bildlichen Darstellung gemacht worden.
Auffallenderweise geschiet in dem Werke Weizenegger-Merkles über Vorarlberg (Innsbruck 1839, im Verlage der Wagnerschen Buchhandlung) und in Bergmanns Landeskunde von Vorarlberg (ebendaselbst, 1868) gar keine Erwähnung von dieser doch merkwürdigen Dienstwanderung. Staffler spricht in seinem "Tirol und Vorarlberg, topographisch, Innsbruck, 1847, bei Karl Pfaundler", von den Erwerbsreisen der Gebirgler in der Vorrede nur im allgemeinen wie folgt: "Einen namhaften Ertrag gewähren dem erwerbsfleißigen Tiroler die zeitlichen Wanderschaften. Aus mehreren Tälern des Landes ziehen viele Tausende auf einige Monate in die Fremde. Wenn man anderwärts des Tirolers enthusiastische Liebe zu seinen Bergen bewundert, so kann man sich dieses zahlreiche Verlassen derselben kaum erklären. Doch eben jene Berge sind es, die ihn gewaltsam wegtreiben und magnetisch wieder an sich ziehen. Einer Bevölkerung von mehr als 800000 Menschen geben sie, nicht genug Nahrung und Unterhalt. Die karge Nachhilfe der heimischen Industrie und der Erwerb, den der Handel bietet, decken den Abgang nicht. Ein Blick in die ärmliche Hütte — steht sie in der schattigen Talschlucht oder auf dem unwirtschaftlichen Felsen in der Nähe des ewigen Eises, wo das Gersten- und Haberbrot nicht mehr zureicht, den Hunger zu stillen — zerstreut, jeden Zweifel. Not bricht Eisen. Hinaus muß alles, was daheim entbehrlich ist — der Sohn, da und dort auch die Tochter und das Kind —, um zu arbeiten und zu erwerben. Diese Regsamkeit führt, da das Inland so viele Hände nicht immer lohnend beschäftigt, große Scharen rüstiger Burschen weit und breit in das Ausland, selbst in die fernsten Gegenden von Europa auf mehrere Monate (ähnlich wie früher die Engadiner). Mit dem Errungenen eilt dann der emsige Arbeiter in den Schoß der heimatlichen Berge zurück. Viele Bedürfnisse im Haushalt, auch Steuern und Zinsschulden, finden damit ihre Bedeckung. ...Die meisten derselben sind aus den Kreisen Oberinntal und Vinschgau... [...] ...In den westlichen und nördlichen Landesteilen beginnt die Wanderung im Monat März, und die Heimkehr erfolgt im Oktober oder November.
[...]
Der Vorarlberger ist bekanntlich ein wanderlustiger Mensch, der Montafoner aber der wanderlustigste ; fast ein Drittel der Talbewohner geht jährlich in Mehrerlei Gestalten ins Ausland. Den Maurern und Gipsern folgen, sobald der Schnee, geschmolzen, zahlreiche Haufen von Jungen, welche auf die großen Verdingstätten von Ravensburg und Leutkirch in Württemberg oder nach anderen Orten jener Gegend wandern, wo von Lichtmeß an von den Bauern weitumher die Hirtenbuben gedungen werden, und zwar je für die eine Sommerszeit, so daß die Zuzügler im Spätherbst mit ihrer Errungenschaft wieder ins Heimatland zurückpilgern können..." In neuerer Zeit ist es unseres Wissens der Kulturhistoriker L. v. Hörmann gewesen, der in seinen "Tiroler Volkstypen, Beiträge zur Geschichte der Sitten etc. in den Alpen" (Wien, 1877, S. 100—106) diese zeitweise Auswanderung zur Sprache brachte.
Ist in der langen Zeit seit der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts inzwischen hierin manches anders und besser geworden und haben die Zuzüge aus der Schweiz, ebenso die Gesindemärkte in den andern genannten oberschwäbischen Städten, ausnähmlich von Ravensburg, längst aufgehört, so ist in der Hauptsache doch dieser originelle Dienstmiete-Brauch geblieben, ja er hat in den letzten 10—20 Jahren infolge der Landflucht und der Leutenot auf dem Lande eher eine Zu- als Abnahme erfahren. Nur ist der Hauptmarkt in Ravensburg gegen früher schwächer geworden, weil viele Bauern, namentlich aus dem Badischen, die Kinder schon in Friedrichshafen nach ihrer Anlandung von Bregenz her gleich dingen. Auch wird die Hin- und Herreise längst nicht mehr zu Fuß, sondern meist auf der Eisenbahn und dem Schiff zurückgelegt. Ferner sind die Dienstmietepreise gegen früher, namentlich beim männlichen Geschlecht, enorm gestiegen.
Eine nicht seltene, in den vorgenannten Berichten nicht mit angeführte Vertragsnebenbedingung ist: "Am Blutfrittich uf Wingarte", d. h. daß die Kinder an dem von Vorarlberg und sogar bis von Nordtirol seit alten Zeiten vielbesuchten "Blutfreitag" (Freitag nach Christi Himmelfahrt) nach Weingarten zum heiligen Blut wallfahrten dürfen, woselbst der berühmte "Blutritt" stattfindet und wo sie dann nicht selten Bekannte und Verwandte aus der Heimat treffen. Im großen und ganzen waren und sind die Kinder gern heraußen im "Schwabenland", leiden keine Not gedeihen vielmehr körperlich und werden meist gut gehalten. — Erst der Neuzeit blieb es vorbehalten, an dieser Sache etwas Anstößiges oder gar Odioses zu finden; und politische Blätter darunter der schon genannte "Beobachter", welche der Sache nicht näher stehen und die Verhältnisse nicht kennen, wollten aus einmal, nachdem man die Sache lange von der harmlosen und gemütlichen Seite angesehen, daran Anstand nehmen und dieselbe als einen wirklichen, der heutigen Zeit unwürdigen Menschen- oder gar Sklavenmarkt, als einen abscheulichen Kinderhandel hinstellen. Und — doch ist dieselbe nichts weniger als das! Geht man auf das alte deutsche Gesindewesen zurück, so ist gar nichts Entwürdigendes, Erniedrigendes oder gar Schimpfliches an der Sache und bildeten eben die Märkte früher die natürliche Gesindevermittlung.
Wollte sich einst ein deutscher Knecht oder eine deutsche Magd verdingen, so erscheinen sie auf der Ding- oder Malstätte vor den Schöffen. In deren Gegenwart wurde nun gedingt, d. h. verhandelt, indem der oder die sich Verdingende alle Leistungen, die sie erfüllen konnte, aufzählte. War der Arbeitgeber mit den vorgebrachten Fähigkeiten zufrieden, so wurden der Lohn, Preis, die Forderungen der Hausordnung, Geschenke und anderes vereinbart; dann erfolgte der zur Rechtsgültigkeit des Vertrags und zur Bekräftigung des Versprechens gegenseitig bindende Handschlag und die Uebergabe des An- (oder auch Haft-) Geldes. Dieses Angeld ist ein Wertgegenstand, der mit Beziehung auf ein Vertragsverhältnis gegeben wird, entweder als ein Zeichen, daß der Vertrag zum Abschluß gekommen ist und das Mietgeld als Anzahlung diene, oder in Hinsicht auf einen noch zu schließenden Vertrag, sodaß der Geber das Angeld verliere oder der Empfänger es doppelt erstatten müsse, je nachdem an ersterem oder letzterem die Schuld liegt, daß der Vertrag nicht zustande komme. Bei Erfüllung des Vertrags ist das Angeld anzurechnen oder zurückzugeben. Allein dies genügte noch nicht zur bindenden Kraft des feierlichen Vertrags, sondern nach dessen Festsetzung ließ man sich zu einem gemeinschaftlichen Mahle oder Trunke nieder. Letzterer ist heutzutage unter dem verstümmelten Namen Leihkauf (vielleicht aus "Leier" = Most, Wein-Ueberguß, oder aus Cider (Sutter, Siedere, etc.) = Obst-, Aepfel-, Birnenwein, italienisch cidro, cidra, d. i. Trunk aus Obst oder Würzwein entstanden) oder Weinkauf bei Kauf oder Verkauf noch vielfach üblich. Durch das Mahl oder den Trunk wird bekundet, daß die Verhandlung zum Abschluß gediehen, daß völlige Einigkeit hergestellt und das Geschäft abgeschlossen ist.
Diese Verdingungen und Geschäfte wurden in den frühesten Zeiten, wo der Austausch der Handelsgegenstände mit großen Schwierigkeiten verbunden war, meist auf den Märkten abgemacht und abgeschlossen auf welchen sich damals aller "Handel und Wandel" vollzog und welche dann auch alsbald mehr oder weniger zu Gesindemärkten wurden. Nur in den größeren Städten hielten die Großhändler Kaufhäuser mit Warenvorräten; die Käufer kamen bei den großen Entfernungen, im Winter und bei während schlechter Witterung ungangbaren Wegen nicht zum Kaufherrn, sondern dieser mußte zu ihnen kommen. Der Kaufmann mußte im Lande herumfahren und überall mit seinen Waren dahin ziehen, wo viele Menschen zusammenkamen, also namentlich auf die Märkte. Diese boten auf einem noch spärlich bevölkerten Boden, der von schlechten und unsicheren Wegen nur ungenügend durchzogen war, einer größeren Volksmenge die Möglichkeit, am Handel persönlich mit Kaufen und Verkäufen teilnehmen zu können. An jeden Anlaß, der geeignet war, zahlreichere Volksmassen aus allen Ständen herbeizuziehen, also an die kirchlichen Feste und Messen, vor allem an Wallfahrtsorte und Kirchen, an Ding-, Mal- und Gerichtsstätten etc., schlossen sich schon in den ältesten Zeiten deshalb Märkte an, indem durch das Zusammenströmen von Menschen Anregung zu öffentlichem und gemeinsamem Handelsverkehr gegeben wurde, sich Gelegenheit zu Kauf und Verkauf bot, welche von den kauflustigen Leuten aus allen Ständen und den umliegenden Gegenden benützt wurde, und ebenso von solchen, die andern ihre Dienste anbieten wollten.
Es liegt weiter in der Natur der Sache, daß sich im Anschlusse hieran auch Volksvergnügen aller Art, Volksfeste auf diesen Märkten ausbildeten. Das ist der Ursprung und die ursprüngliche Bedeutung der Gesindemärkte!
Bis auf den heutigen Tag haben sich einige solche Gesindemärkte erhalten... [...] ...wo sich Arbeitssuchende in der Erntezeit auf den Märkten der kleinen Städte versammeln, unter freiem Himmel nächtigen, dort Aufstellung nehmen und sich den Landwirten der Umgegend zur Arbeit anbieten... [...] ...etwa in der Steiermark der "Leutakaufmarkt", über welchen auch Peter Rosegger gehandelt hat. Es ist also an diesen Gesindemärkten, wenn sie sich auch durch die veränderten gesellschaftlichen und Zeitverhältnisse und namentlich infolge des ausgedehnten organisierten Arbeitsnachweises überlebt haben, an sich durchaus nichts die sittliche Würde und Achtung Verletzendes oder gar Unmoralisches zu entdecken.
Wenn nun auch das jedenfalls sozialpolitisch merkwürdige, jedjährlich siebenmonatliche sommerliche Gastspiel dieser Tiroler und Vorarlberger "Hütkinder" im Schwabenlande, auf welches wir wieder zurückzukommen haben, nicht auf alte Zeiten zurückgeht, sondern neueren Datums ist, so suchten dieselben begreiflicherweise aus praktischen Gründen eben auch einen Markt auf, um ihre Dienste möglichst preiswürdig an den Mann zu bringen, da sie hier Aussicht auf Erzielung eines höheren Lohnes hatten, anderseits der Bauer die Auswahl besaß und die Kinder selbstverständlich nicht erst selbst auf all den zahllosen Einödhöfen herumwandern und ihre Dienste anbieten konnten. Ein Mißstand hierbei ist freilich, daß viele noch im schulpflichtigen Alter stehende Kinder die den Sommer währende Dienstzeit in keine Schule konnten, denselben geraume Zeit der Segen und die Wohltat der elterlichen Erziehung abgeht und unter Umständen auch der Umgang mit Knechten und Mägden für die Kinder eine Gefahr bildet und sie einen Hang zur Vagabundage bekommen.
Die Verhältnisse mancher armen Gebirgsgegenden und Täler, bringen es eben, wie wir schon oben von Staffler gehört, mit sich, daß die Bewohner, und zwar nicht bloß die Erwachsenen, sondern auch die Kinder, dieselben für einige Zeit verlassen müssen, weil ihre ihnen sonst so teure Heimat sie nicht nährt, um sich und den Ihrigen das Brot zu verdienen und einen Sparpfennig auf den harten Winter heimzubringen, und daß die Schulzeit sich auf den Winter beschränkt. Es hat auch in der Heimat der "Hütkinder" nicht an Stimmen gegen dieses "Unwesen" gefehlt und suchte man namentlich in den 1870er Jahren von verschiedenen Seiten das zeitweise Auswandern einzuschränken. Namentlich war es der ehemalige Pfarrer und Dekan Paul Schweighofer von Imst, der in dieser Hinsicht tatkräftig voranging; er bezahlte einigen Familien aus eigener Tasche die Summe, welche ihre Kinder sonst aus dem Schwabenlande brachten und erwirkte ihnen von wohltätigen Bürgern Kost und Kleidung.
Das Hütkinderwesen ist zurzeit ziemlich weit verbreitet, so namentlich im Osten Preußens, in den Provinzen Pommern, Sachsen, Schlesien, Posen. Auch in Mecklenburg findet das Kinderhütwesen in ausgedehntem Maße statt. Nach der "Preußischen Lehrerzeitung", Nr. 249 vom Jahre 1899, waren mehr als die Hälfte Kinder (darunter auch Mädchen) von der Sommerschule befreit, um als Hütkinder etc. verwendet zu werden. Auch im Kreise St. Vith in Rheinpreußen, in der Gegend von Malmody, werden schon seit langer Zeit schulpflichtige Kinder zurzeit der Viehhut nach auswärts vermietet; erst in der allerneuesten Zeit soll die Befreiung derselben vom Schulbesuche eingestellt und für dieselben eine eigene "Hüteschule" eingerichtet werden. Ebenso kommt es in Braunschweig, Hessen-Nassau und in Bayern zum Teil vor.
Die Ursachen der Entstehung dieser alljährlichen Wanderung — wozu im Norden die sogenannte "Sachsengängerei" eine Art Genstück bietet — will man aus dem starken, in einigen Städten des südlichen Württembergs zwischen den Tiroler und Schweizer Käufern einer - und den Oberländer Verkäufern anderseits stattfindenden Verkehr, aus der hieraus sich ergebenden gegenseitigen nahen persönlichen Bekanntschaft derselben sowie aus dem Umstand erklären, daß auf schwäbischer Seite Bedürfnis und Nachfrage nach Dienstboten der in Rede stehenden Art Waren und ausgesprochen wurden, tiroler- und schweizerseits entsprechende Angebote gemacht werden konnten und gemacht worden sind. Zwischen Oberschwaben und Vorarlberg bestand allerdings schon von alten Zeiten her viel Beziehung, gehörten doch beide Provinzen zum sogenannten Vorderösterreich.
Nach dem Schwedenkriege waren verschiedene Ansiedler aus Tirol-Vorarlberg in das entvölkerte Oberschwaben gewandert, und auch sonst fanden früher wie später hin und wieder Einwanderungen statt. Vor dem Hütkinderzuge fanden manche soziale Berührungen zwischen beiden statt; so stellten sich früher, noch bis über die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts, in Schwaben die Vorarlberger Sensenhändler im Mai ein, welche indes heutzutage durch die einheimische und rheinische Konkurrenz längst verdrängt sind. Ein Zuzug ist aber geblieben — der der Vorarlberger und namentlich Montafoner Aehrenleserinnen und Aehrensammlerinnen, von welchen uns wieder Vonbun eine reizende Schilderung gibt. "Weiber und Mädchen" — so schreibt er — "suchen sich zur Zeit der Ernte für ihre zarten Hände einen geeigneten Erwerb aus, nämlich das Aehrenlesen. Da schlendern sie zu Hauf nach dem kornreichen Schwaben hinaus und bringen daselbst den Tag ährenlesend auf den Getreidefeldern, die Nacht schlummernd und träumend in Heuscheuern zu." (Es ist dies wohlgemerkt bloß die Nachlese auf den bereits abgeleerten Getreidefeldern, welche meist aber immer noch ordentlich ausfällt, da der Oberländer Hofbauer im Gegensatz zu dem viel "interessierteren" Unterländer Bauern beim Einheimsen es nicht so genau nimmt und immer noch etwas liegen läßt.)
"Ist die Erntezeit vorüber, so sammeln sich die Jungfrauen und Weiber wieder alle zu Leutkirch, mieten mehrere große Leiterwagen, laden das aus den gesammelten Aehren gewonnene gute Schwabenkorn in Säcken auf und fahren singend zurück in die Heimat. Es hat sich indessen auch schon zugetragen, daß die eine oder die andere ährenlesende Montafoner Ruth einen reichen schwäbischen Botz berückte und nicht mehr in die heimatlichen Berge zurückkehren mochte." Dann - wer kennt den Montafoner Krautschneider nicht, der früher Ende September talauswärts in die weite Welt, besonders auch nach Schwaben auf den - Krautschnitt zog, d. h. nicht etwa auf das Absicheln oder Abschneiden der in Gärten und Feldern prangenden Krautköpfe, sondern auf deren Umwandlung mittels eines "Krauthobels" zu saftigem Sauerkraute, welcher jetzt indes auch aus Schwaben bereits längere Zeit verdrängt ist. Durch alle diese sporadisch zugezogenen Elemente werden wohl die Bauern im Oberlande und die Aelpler auf das neue Arbeitsfeld für junge Leute aufmerksam geworden bzw. wird dasselbe vermittelt worden sein!
Allein - dies alles erklärt natürlich, die immerhin ungewöhnliche periodische Wanderung jugendlicher Dienstboten aus ihrer Gebirgsheimat in ein zwar sozial und konfessionell stammverwandtes, aber politisch nicht verbundenes, sogar in Handel, Verkehr und Gewerbe durch die lästige und längst nicht mehr zeitgemäße Zollscheide scharf abgegrenztes Nachbarland noch keineswegs. Viel mehr ist es das erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts in den oberschwäbischen Oberamtsbezirken Ravensburg und Tettnang etc. (im Allgäu allerdings schon früher) entstandenen Vereinödungssystem, welches ziemlich gleichzeitig mit dieser Wandererscheinung zusammentrifft und diesen Kinderhandel zur Folge hatte bzw. veranlaßte. Der Bauer hatte bei diesem - einen besonderen Betrieb erheischenden - Einödsystem auf den unzähligen Einödhöfen etc. - schon im zweiten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts zählte man allein im Oberamte Ravensburg über zirka 600 Weiler und Einöden; in den Oberämtern Wangen und Leutkirch noch mehr - Arbeitskräfte nicht so zur Hand, wie im geschlossenen Dorfe; die einheimischen Kinder er von wegen des beim Württembergischwerden gleich eingeführten Schulzwanges weniger heranziehen, und so war er auf fremden Zuzug mehr oder weniger angewiesen, welcher sich aus den nahen, damals mehr als je verarmten Gebirgsländern umso geschickter traf, als Bauer wie Dienstkinder hinsichtlich der Zeitdauer der Arbeitsleistung, nämlich von Frühjahr bis Herbst (und nicht über den Winter), welche sonst so viele schwer lösbare Schwierigkeiten macht, in ihren gegenseitigen Ansichten und Wünschen völlig zusammentrafen.
Das sonst schon an und für sich in der Natur der Landwirtschaft begründete Mißverhältnis bzw. der Gegensatz zwischen Sommer- und Winterarbeit regelt sich so zu beider Vertragsteile Zufriedenheit in glücklicher Weise. - Daß das Einödesystem diese Tiroler und Vorarlberger Emigration nach sich zog, bestätigt u. a. auch Karl Friedrich Dizinger in seinen "Denkwürdigkeiten aus meinem Leben und meiner Zeit, ein Beitrag zur Geschichte Deutschlands, vornehmlich Württembergs etc." (1833). Dizinger war nämlich (von 1810 bis 1813) der erste württembergische Oberamtmann von Ravensburg (und vorher in gleicher Stellung in Biberach a. d. R. in Oberschwaben gewesen) und somit zu einem Ausspruche wohl in der Lage und berufen. Vor dem 19. Jahrhundert weiß man nichts von dieser merkwürdigen Erscheinung auf dem Gebiete des Gesindewesens und davon erst seit zirka dem Jahre 1810; es fallen das Vereinödungssystem und dieser fremde Gesindezuzug zeitlich fast zusammen. Wahrscheinlich ist derselbe zur bayerischen Zeit, d. h. solange Tirol-Vorarlberg (von 1805 bis 1815) und auch die Seebezirke Ravensburg-Tettnang (von 1802 bis 1810) bayerisch waren, entstanden. Zwischenhinein warfen freilich der Tiroler Freiheitskrieg und in Verbindung damit die Vorarlberger Insurrektion von 1809 ihre Schatten bis tief nach Oberschwaben hinein und wird wohl über diese kritische Zeit der Wanderzug, wenn er überhaupt vorher bestand, geruht haben. In den Registraturen des württembergischen Amtsgerichtes und des württembergischen Oberamtes Ravensburg läßt sich nichts darüber finden.
Daß sich diese Einrichtung, wenn auch in mehr oder weniger modifizierter Form, bis auf den heutigen Tag erhalten hat, ist ein Beweis für ihre Lebensfähigkeit und daß sie einem wirklichen Bedürfnis entspricht; heutzutage bei dem immer mehr zunehmenden Mangel an ländlichen Arbeitern und bei der herrschenden Landflucht und Leutenot vielleicht noch mehr denn früher.
Bei der Art des Betriebes der Landwirtschaft im Oberlande, zumal auf den zahllosen Einödhöfen,ist man jüngerer, nicht so teurer Leute zum Hüten des Viehes (weniger mehr gegen früher zum "Treiben" der Tiere beim Pflügen) benötigt. Im Laufe der Zeit hat sich auch die ökonomische Lage der Hütkinder, sehr zum Besseren gewandt. Insbesondere sind die Ansprüche bzw. Preise gegen den Anfang und früher nach und nach fast um das Drei- bis Vierfache, ja nicht selten noch mehr, gestiegen. Der Lohn, der für die sieben Monate bezahlt wird, richtet sich nach dem Alter und Geschlecht, nach der Größe und Stärke und darnach, ob sie schon einmal auswärts gewesen und ihr Geschäft, die nötigen Hantierungen usw. kennen usw. Während noch vor zirka 70 Jahren 5 bis 20 fl. bezahlt wurden, erhält heutzutage z.B. ein 16 jähriger Hütbübe 120 Mk. Lohn, das übliche Gewand (Häs), 3 Mk. Haftgeld, 2 Mark am "Blutfreitag" und freie Station. Die Nachfrage ist eben seit geraumer Zeit eine erheblich stärkere geworden, während der Zuzug aus dem längst zum Fabrikland gewordenen Vorarlberg gegen früher stark zurückgegangen ist und der aus der Schweiz längst aufgehört hat.
Der gesamte Arbeitsmarkt dieser Dienstkinder ist nun seit zirka 13 Jahren organisiert und hat in einem eigenen "Verein zum Wohle der sogenannten Hütkinder und jugendlichen Arbeiter überhaupt", welcher laut § 4 seiner Statuten seinen Sitz zu Pettneu im Stanzertal hat und dessen rechtlicher Bestand von der k. k. Statthalterei in Innsbruck unterm 20. Februar 1891 bestätigt ist, ein öffentliches Organ gefunden. War früher dieser Dienstkinderzug mehr oder weniger formlos, so erscheint derselbe jetzt geregelt. Fast alle aus Tirol haben sich diesem Verein angeschlossen bezw. schließen sich an. Nicht so bei uns in Vorarlberg, wo viele, wenn nicht die meisten, das ihnen nahegelegene, Wohlbekannte Schwabenland unabhängig von dem Vereine unmittelbar aufsuchen und den Weg direkt zu ihren schon vorher schriftlich ausgemachten Plätzen nehmen. Die Heimfahrt um Simon und Judä vollzieht sich in ähnlicher Weise: Die Vereinsleitung erläßt in oberschwäbischen Lokalblättern, wie in dem "Oberschwäbischen Anzeiger", im "Seeblatt" usw., ein Ausschreiben unter Bestimmung des Tages, der Zeit usw., an welchem sich die Kinder in Ravensburg bezw. Friedrichshafen zur Heimreise einzufinden haben; von da werden sie durch Vertrauensmänner in Empfang genommen und per Schiff bezw. per Bahn an die jeweiligen Bahnstationen Landeck, Imst etc. zurückgeleitet, wo sie dann meist durch Angehörige in ihre heimatlichen Täler abgeholt werden. Nicht selten läßt sich der Hütbube vor seinem Abzuge zum Abschiede einen Strauß von Rosmarin, mit Goldschaum geschmückt, auf sein rundes Tirolerhütchen oder an seine Brust heften, mit welche er dann bei seinen Angehörigen wieder einrückt. In neuester Zeit ist noch eine weitere Fürsorge, und nicht die geringste, dazu getreten, die der persönlichen Nachschau an Ort und Stelle.
Der Obmann hat nämlich in Begleitung eines Vertrauensmannes, eines Laien, in den beiden letzten Jahren 1903/1904 die zahlreichen Ortschaften in Württemberg, Baden und Hohenzollern besucht, in denen Hütkinder und jugendliche Arbeiter untergebracht sind. Es sind im ganzen zirka 70 Gemeinden, welche diese beiden Männer bei jeder Witterung von Ort zu Ort eilend, begangen haben, um sich nach der Verpflegung ihrer kleinen Landsleute in den verschiedenen Bauerngehöften einer- und nach deren geschäftlicher Brauchbarkeit und religiös-sittlicher Aufführung andererseits zu erkundigen und ihnen Ratschläge zu erteilen, worin sie von der einheimischen Geistlichkeit getreulich unterstützt wurden und werden.
Das Resultat dieses Kontrollganges war bisher fast durchweg ein günstiges: die Kinder werden, wie auch schon früher, von den oberschwäbischen Bauern, welche ja bekanntlich ein gutmütiger und wohltätiger Menschenschlag sind, gut gehalten, in den meisten Fällen wie Angehörige ihrer Familie.
Daß aus solchen Hirtenjungen mitunter auch noch etwas Bedeutendes wird, dafür ist u. a. der bedeutende, 1840 zu Reuthe im Bregenzerwald geborene, 1904 in Bregenz verstorbene Bildhauer Georg Feuerstein ein Beleg, welcher in seiner frühen Jugend gleich anderen armen Sprößlingen seines Heimatdörfchens als Hütejunge ins Schwabenland hinausgeschickt wurde. - Um zum Schlusse zu kommen, sind wir weit davon entfernt, diese Erscheinung, wo jugendliche Leute schon in frühem Alter längere Zeit ihre Heimat verlassen und ihr Brot draußen bei fremden Leuten suchen müssen, für eine ideale anzusehen, aber so, wie die Verhältnisse einmal liegen, läßt sich eben die Sache - wenigstens auf absehbare Zeit - nicht ändern und gilt es, derselben die guten Seiten möglichst erträglich und menschenwürdig zu gestalten und, wenn es irgend angeht, zu verbessern.